KURT WOLFF VERLAG
LEIPZIG
Bücherei
Der jüngste Tag
Bd. 39/40
COPYRIGHT KURT WOLFF VERLAG, LEIPZIG 1917
GEDRUCKT BEI G. KREYSING IN LEIPZIG
«Memento vivere!»
VOR mir liegt ein weißes Blatt Papier. —
O du weißes Blatt Papier!
Du liegst unter meinen Augen — wehrlos, unschuldig,schön. Glatt bist du und ohne Makel. Wiesollt’ ich dich beschreiben?
Ich beschreibe dich nicht.
Ich wage nicht, dich zu beschreiben.
Du bist so weiß!
O du weißes Papier!
Was ist dir!
Und was ist mir??
— — Ich starre auf das leere Blatt und lese Sätze— wie von meiner Hand geschrieben.
Bin ich irre? Spukt es mich an?
Ich lese Sätze, die ich nie geschrieben; ich lese Sätze,die ich nie gedacht.
Hier stehen sie gedruckt, wie ich sie sah.
Das Blatt jedoch ist weiß wie Schnee.
Vor meinen Augen flirrt’s.
Der grause Schrecken faßt mich an, mich schüttelt’swie im Fieber:
Mit langen Beinen, ekel angehaarten, stolziert eingiftig grünes Hirngespinst quer über meinen weißenBogen.
Und er, der eben leer, ist vollgekrakelt.
Mir bleibt es, in die Druckerei zu schicken, wasdrauf steht.
Ich tu’s.
WIR alle sind sehr verdorben.
Wir lesen und fabrizieren Literatur, die anIntensität und Gesteigertheit nichts zu wünschen übrigläßt.
Ich empfehle zwecks Erholung und Reinigung derhirnlichen Zustände das folgende barbarische Mittel:kauft euch Dr. H. Loewes spanische Unterrichtsbriefeund lest darin! Lest darin, ohne spanisch lernen zuwollen!
Lest die Sätze:
«Die Welt ist groß. Ihr habt ein Stiergefecht inSevilla gesehen. Der boshafte Räuber nimmt das Geldweg. Ich habe die Witwe des Generals geküßt. Dasschöne Fräulein hatte einen unglücklichen Vater. Sieerzürnten den Zwerg, indem sie Bohnen in sein Gesichtwarfen. Der Allmächtige erhält die Welt, welcheer erschuf. Du gibst mehr Geld aus, als nötig ist.Seid immer fleißig und aufmerksam! Die Kartoffelnwurden im Jahre 1580 nach Europa gebracht. Wiekannst du über das Unglück anderer lachen?»
Je mehr ihr dieser weltgebornen Sätze leset, um soweiter werden eure Herzen von der modernen Literaturhinwegrücken!
(Oder etwa nicht??)
DER Schreibtisch liegt im Scheine der flackerndenKerze. Im Ofen knistert das Holz. Draußenist kohlrabenschwarze Nacht.
Ephraim schreibt an einer Novellette, die folgendermaßenanhebt:
«Der Schreibtisch liegt im Scheine der flackerndenKerze. Im Kamine knistert das Holz. Draußen istkohlrabenschwarze Nacht.»
Der Anfang dieser seiner Novellette hat vielerleifür sich. Vor allen Dingen ist er von unanfechtbarerWahrhaftigkeit und Sachlichkeit